Die Narbe

 

Nachdem ich bei meinem Meister in der Schmiede ausgelernt hatte, ging auch ich, wie es der Brauch war, auf Wanderschaft. Ich schnürte mein Bündel und marschierte mit vielen guten Ratschlägen und Wünschen morgens in aller Frühe los. Da es ein schöner Herbsttag war, ließ ich mir Zeit. Die Meisterin hatte mir Proviant mitgegeben und so machte ich zwischendurch immer wieder einmal Rast und aß einen Kanten Brot und ein Stück Speck. Als Nachtisch suchte ich mir ein paar Äpfel, die unter den Bäumen nahe der Landstraße zu finden waren.

Die Sonne stand schon ziemlich tief, als ich bemerkte, daß ich mein Tenpo sofort beschleunigen müßte, wenn ich noch mein Ziel erreichen wollte. Jedoch meine Einsicht kam zu spät. Das Dorf, in welchem ich mich um einen neuen Arbeitsplatz umsehen wollte, konnte ich auch nach zwei Stunden noch nicht erblicken. Also mußte ich mir eine möglichst preiswerte Herberge suchen. Das war einfacher gedacht, als getan, denn ich war inmitten eines Waldes, und ich kannte mich hier nicht aus. Es wurde allmählich dunkel und durch den aufgekommenen Herbstnebel war es empfindlich kalt. Müde stolperte ich weiter und hoffte, wenigstens eine Hütte zu finden, in der ich die Nacht geschützt verbringen konnte. Plötzlich sah ich durch die Nebelschwaden einen Lichtschimmer. Ich ging darauf zu und stand bald danach vor einem kleinen Gasthaus. In der vollbesetzten Gaststube war es gemütlich warm, und ich fragte den Wirt, ob er noch ein Zimmer für mich frei habe. "Tut mir leid", erklärte er mir, "bei uns ist alles belegt." Als er mein enttäuschtes Gesicht sah, meinte er: "Höchstens - da oben unter dem Dach habe ich noch eine ganz kleine Kammer mit einer alten Liege. Da kannst du schlafen. Aber - " er zögerte und strich sich mit der Hand etwas verlegen über's Kinn, "dort spukt es manchmal nachts." Er sah mich fragend an. Ich lachte und versicherte: "Das macht mir nichts aus. Ich bin so müde, daß ich bestimmt gleich schlafe und davon nichts merke." So ging ich die steile Stiege hinauf und betrat die Kammer. Sie war wirklich winzig klein; oben hatte sie ein kleines Dachfenster, und außer der Liege stand nichts darin. Nachdem ich mein Bündel abgestellt hatte, streckte ich meine müden Knochen sofort aus und löschte die Kerze. Aus der Wirtsstube drang ab und zu Gegröle und Gelächter an mein Ohr, was mich jedoch nicht störte. Ich war gerade am Einschlafen, als mich ein Geräusch aufhorchen ließ. Ein leichtes Knarren war zu hören; leise wurde die Tür von meiner Kammer geöffnet. Angespannt lag ich da und lauschte, aber alles blieb still. Da es in der Kammer stockdunkel war, konnte ich auch nichts sehen. Ich dachte schon, daß ich mich getäuscht hätte, als ich durch eine krächzende Stimme zusammenfuhr. "Wanderbursche, schläfst du schon?" hörte ich direkt neben mir. Obwohl es mir ziemlich mulmig war, antwortete ich munter und forsch: "Nein, ich schlafe noch nicht." Danach war alles ruhig wie zuvor. Ein Luftzug und das Knarren der Tür ließen mich vermuten, daß ich wieder allein war. Mir fielen die Worte des Wirtes ein, und ich war wieder hellwach. Ich legte mich so, daß ich die Tür im Auge behalten konnte und wartete. Etwa eine Viertelstunde mochte vergangen sein, als sich die Türklinke bewegte. Ich konnte es deutlich sehen, denn inzwischen erhellte der Mond ein wenig die Kammer. Leise ging die Tür auf und eine kleine bucklige Frau kam herein. Sie hatte die Hände auf dem Rücken und blieb vor meinem Bett stehen. Langsam beugte sie sich zu mir und flüsterte: "Wanderbursche, schläfst du schon?" Diesmal murmelte ich ganz verschlafen: "Nein, ich bin noch wach." Daraufhin verschwand die Alte wieder. Nun wurde es mir aber doch zu bunt. Was wollte das Weib denn von mir? Ich überlegte fieberhaft, was ich tun könnte. Schnell stellte ich mich an die Wand hinter die Tür. Wenn sie geöffnet würde, konnte die Alte mich nicht bemerken. Und tatsächlich! Nach kurzer Zeit kam sie genauso leise wieder. Sie fragte ein drittes Mal: "Wanderbursche, schläfst du schon?" Aber jetzt antwortete ich nicht. Da sah ich mit Entsetzen, wie sie ein langes Messer hervorzog und sich zu meinem Bett hinabbeugte. Mit einem gewaltigen Satz stürzte ich hinter der Tür hervor und rannte die Treppe hinunter. Ich blickte zurück. Oben stand die Alte. Sie hatte den Arm erhoben. In der Faust hielt sie das Messer, welches sie nun mit voller Wucht auf mich warf. Ich bückte mich schnell, jedoch verfehlte es sein Ziel nicht ganz, sondern traf mich an meinem verlängerten Rücken. Noch heute teilt die zurückgebliebene Narbe mein Hinterteil in zwei Hälften.

© Familie K.

Noch mehr spannende und humorvolle Erzählungen sind gesammelt in: "Erlebnisse eines Lausbuben". Für weitere Informationen schreibt mir doch einfach eine e-mail.

 


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